Chroniken » Chroniken VI. - Die Zeit der Toten: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2009
2009.10.17 - Vom Wesen der Vampire
17.10.2009 - 11:53

„[…] Was die Unsterblichkeit anbelangt, so musst Du noch unendlich viel lernen. Allem voran ist sie nichts als ein Euphemismus, eine Illusion. Wir sind keine romantischen, erhabenen Unsterblichen, keine Halbgötter, auch wenn sich einige am Hof der Nacht schon für ganze Götter halten. Wir sind nichts als Vampire. Wir sind nicht unsterblich, wir sind tot. Nur durch den Raub von Leben, den Diebstahl der Lebenskraft können wir weiter existieren. Damit wir weiter existieren, töten wir, nicht selten und nicht wenig. Im Gegensatz zu den literarischen Ergüssen eines gewissen Vampirs und seines Erwählten ernährt sich in Wirklichkeit kein Vampir dauerhaft von Tieren. Nein, wir töten Menschen, wie Ihr Rinder für ein gutes Steak schlachtet. Menschen sind unser Vieh und nur die Geprägten können unsere Gefährten sein. Nicht vom Schicksal geprägte Menschen schenken uns ebenso wenig Beachtung wie wir ihnen. Sie sind für uns nur Vieh und Futter, während wir für sie eine surreale Bedrohung darstellen, welche sich ihr Bewusstsein weigert wahrzunehmen.

Bei all den wohlklingenden Worten und wohltätigen Taten, die manche Häuser so sehr bemühen, lässt unser Hunger doch jeden von uns zum Serienmörder werden und Woche für Woche töten, um durch den Raub der Vitae zu überleben. Nicht weniger als ein Menschenleben löscht jeder Vampir in der Woche aus, um bei Kräften zu bleiben, und wenn es sich nach unserem unstillbaren Durst richten würde, so würden wir jede Nacht einen Menschen töten, vielleicht sogar zwei.

Bist Du bereit zu morden, Leben brutal zu nehmen? Manche Vampire bemühen sich stets den Menschen ihre letzten Augenblicke und ihren Tod möglichst schmerzfrei, angenehm und schön zu gestalten, doch dennoch ändert das nichts daran, dass wir ihnen ihr Leben nehmen. Bist Du bereit dies zu tun? Kannst Du es verkraften, Woche für Woche zu morden und damit weiterzuleben? Oder wirst Du an dem Schmerz, der Trauer, der Reue zusammenbrechen und Dich entweder dem Licht des Sonnenaufgangs aussetzen, um diese Existenz zu beenden, oder Deinen Verstand verlieren? Nicht umsonst hat der Orden der VII wilde und vorzeitige Verwandlungen unter Strafe gestellt und einige sogenannte Unsterbliche zu Asche und Staub zerfallen lassen. Wer den Kuss des Todes empfängt muss vorher lange geprüft und gut vorbereitet werden.

So muss die Person auch sicheren Schrittes durch den saltatio mortis, den Reigen der Toten, auf dem rutschigen Parkett des Hofes der Nacht gleiten, sonst ist sie zum Verderben verurteilt. Jede Gesellschaft, auch ein nicht organisierter Haufen von Vampiren, braucht auf Dauer ihre Regeln, die eine dauerhafte Koexistenz, sei sie nun friedlich oder kriegerisch, überhaupt erst ermöglichen. Wer sich also den dunklen Kuss erschlichen hat, ohne den Hof der Nacht, seine Regeln und Mechanismen ausreichend zu verstehen, hat sein eigenes Verderben herbeigeführt. Einen Ausweg gibt es dann nicht mehr, auf Gnade der Ältesten ist nicht zu hoffen, denn für sie ist es eine reine Entscheidung entweder Recht und Ordnung zu erhalten oder aber Schwäche zu zeigen und den Hof ins Chaos zu stürzen. Nur ein Narr kann da noch auf Gnade hoffen. Es ist nicht die Gnade, die unsere Existenz regiert. Das solltest Du lernen, solange Du noch kannst.

Nein, wir sind keine edlen Unsterblichen, auch wenn wir geneigt sind, diese Illusion zu erzeugen, und Ihr geneigt seid, sie zu glauben. Wir sind nichts als Vampire.[…]“

(Aus dem Brief eines Vampirs an eine junge Geprägte.)


Sin


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