Chroniken » Chroniken V. - Die Zeit der Waage: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2008
2008.06.21 - Nosce Verum: Ein Brief
01.07.2008 - 00:37

Hallo mein Freund,

es ist schön wieder von Dir zu hören, auch wenn ich die verstrichene Zeit zwischen unserer letzten Begegnung kaum bemerkt habe.

Die Nächte streichen vorbei und verschmelzen zu einer Einzigen – voller kurzer Begegnungen, Lächeln, Küssen und Musik.

Vielleicht ist es die Musik, die mir das Zeitgefühl nimmt – wie der Zeitraum zwischen zwei und fünf Uhr nachts in einem Club: Du bist in der tanzenden Menge gefangen, bewegst Dich mit ihr, wirst ein Teil ihrer und wenn Du die Augen schließt vergehen Stunden bis zum nächsten Augenaufschlag.

In dieser Zeit fühlst Du weder Durst noch Schmerz, aber es ist kein Abstumpfen der Sinne. Es ist etwas anderes. Vielleicht eine Art religiöser Trance – die Gebete an einen anonymen Gott des Nightlife.

Als Sterbliche fühlte ich mich in dieser Welt nicht wohl. Heute ist es mein Leben. Manchmal frage ich mich, wie ich ohne diese Clubs mit ihren gedimmten Lichtern und der ewig gleichen Musik überleben könnte, wie es andere taten. Es scheint eine Erfindung einzig für meine Spezies zu sein. Ich bin mir sicher, der erste Clubbesitzer war ein Vampir.

Aber, was war es doch gleich, warum Du mir geschrieben hast?

Ah, richtig.. die letzte Versammlung des Hofes..

Ich bin kein guter Berichterstatter – ich bin ein subjektives Wesen.

Ich schätze, wenn Du andere Gäste gefragt hättest, hättest Du wohl von einem ruhigem, relativ ereignislosem Abend mit entspanntem Gelächter erfahren.

Mir ging es anders.. ich fand ihn irgendwie unheimlich.

Die Wahrheit ist, ich habe mich lange nicht mehr so bedroht gefühlt und ja, ich gebe zu, dass es einen Riss in meine gläserne Welt trieb und mich daran erinnerte, wie zerbrechlich sie in Wirklichkeit ist. Vielleicht zerbrechlicher als die sterbliche Welt. Ein Traum ist schließlich wesentlich endlicher als die Wirklichkeit, nicht wahr? Vielleicht ist es in dieser Traumwelt auch nur leichter, den Verstand zu verlieren, wenn man nicht gut genug auf ihn aufpasst.

Aufpassen.. warum ist man die ganze Zeit eigentlich nur damit beschäftigt auf Menschen aufzupassen, als wären sie ein Portemonnaie? Wenn Du bei einem Geprägtem punkten willst: biete ihm Schutz an. Der beste Vampir ist eine Alarmanlage. Es ist ein Verbraucher-Dienstleistungs-Verhältnis. Angebot und Nachfrage.. und da sage einer, der Hof der Nacht sei nicht modern.

Und trotz all der verstaubten Fächer und Gehröcke fehlt irgendwie die Romantik.

Warum kann es nicht einfach Vampire geben, die ihre Erwählten tatsächlich mögen und nicht lediglich als Kapazität ansehen?

Nun, für das Haus Saintclaire war es jedenfalls ein lohnenswerter Beutezug: nicht nur eine kleine Geprägte, die bis zu dieser Nacht von der Existenz der Vampire noch keine Ahnung hatte, nein auch einen Vampir haben sie abgestaubt.

Die Masche, mit der sie es tun ist jedenfalls neu. Ich glaube nicht, dass es noch länger 'Schutz' ist, was sie versprechen. Es scheint viel mehr Erpressung zu sein. Die kleine hatte 'Visionen' ...und nicht nur sie.

Visionen, Glauben, Brainwashing. Zumindest kann man ihnen nicht vorwerfen, dass ihre Methoden nicht christlich seien.

Aber Du hast Dir sicher bereits eine eigene Meinung über dieses Haus gebildet.

Was nun diese Lesung angeht, von der Du gesprochen hast [...]


Tatjana Achmatova


gedruckt am Heute, 21:14
http://www.theater-der-vampire.de/include.php?path=content/content.php&contentid=901