Chroniken » Chroniken V. - Die Zeit der Waage: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2008
2008.04.19 - Memento Mortis: Resümee
09.05.2008 - 00:43

Setz Dich, Hieronymus! Hast Du etwas zu schreiben bei Dir? Gut. Ich möchte, daß Du einige Dinge für mich festhältst, die zu vergessen ich bedauern würde.

Ja, richtig, sie betreffen diese Begebenheit vor kurzer Zeit. Ich, Friedrich von Hardenberg, beherbergte eine Hochzeit in meinem Hause. Wie kurios.

Bitte?

Es ist mir durchaus nicht entfallen, daß auch ich verlobt bin, mein Lieber, aber das ist eine gänzlich andere Angelegenheit. Eine Angelegenheit überdies, derer ich mich nicht um jeden Preis erinnern muß. Schreibst Du schon?

Dann streich alles bisher!

Gut. Also… Es war die Nacht zum zwanzigsten April, doch halt… vielleicht sollte ich erwähnen, daß ich just zuvor von einer längeren, nun, Reise zurückgekehrt war.

Das spielt keine Rolle, Du würdest es ohnehin nicht verstehen. Außerdem ist dies eine Erfahrung, die ich auch bar jeder Aufzeichnung nicht vergessen werde.

Nein, es war wohl nicht in jeder Beziehung ausschließlich angenehm. Durchweg lehrreich jedoch, in der Tat! Wie dem auch sei, ich kehrte zurück, und ich möchte annehmen, meine Rückkehr war zu einem nicht geringen Teil unerwartet. Sophie war ein wenig… überrascht. In bestem Sinne versteht sich!

Ja, eine ergreifende Szene, wahrlich. Doch das sind Nebensächlichkeiten. In selbiger Nacht jedenfalls bat ich Sophie, an meiner Seite als Älteste des Hauses zu fungieren. Der Hof der Nacht hat sich doch ein wenig verändert, und sie ist mit den jungen Häusern und ihren Gepflogenheiten…

Du sollst schreiben, nicht kommentieren! Ich finde jederzeit einen Diener, der sich jeglicher Unverschämtheit zu enthalten und auf seinen Platz zu besinnen weiß, also hüte deine Zunge! Denk Dir, was sagen zu müssen Du glaubst. Nein! Denk nicht einmal, schreib nur!

Und streiche den letzten Absatz.

Schön. Sophie also ist nun gemeinsam mit mir Älteste des Hauses, und wie ich zu bemerken nicht umhinkonnte, hat sie es in meiner Abwesenheit mit diverserlei Dingen gefüllt. Sie hat nun einmal ein Faible für lärmenden, kleinen Firlefanz. Wie sagt man noch dazu?

Nein, nicht Spieluhren… ach ja: Säuglinge. Schon die Bezeichnung ist obszön! Nicht genug damit, daß sie zu jeder Unzeit plärren. Sie riechen unangenehm, und sie glotzen mit einer so erbarmenswerten Dummheit in die Welt. Nun ja, man hat sich ihrer angenommen, und ich schätze den Frieden, der wieder in das Haus eingekehrt ist. Die anderen freilich sind geblieben. Ich habe mir ihre Namen nicht gemerkt, aber zwei von ihnen hatten in einer törichten Aufwallung des Gemüts zu heiraten beschlossen, was mich schließlich zu den Geschehnissen des bezeichneten Abends führt.

Sophie oder irgendwer sonst… wahrscheinlich Sophie... Sophie also hatte Gäste geladen. Viele Gäste. Die Kapelle unseres Hauses war so voll von ihnen, daß ein unbeschwertes Promenieren unter den steinernen Arkaden kaum mehr möglich war. Man hatte sogar einen Pfaffen besorgt, um der Verbindung den Segen zu geben. Das war noch vor meiner Rückkehr, doch da ich bereits wieder im Hause weilte, bestand nunmehr selbstverständlich keine Notwendigkeit für einen Mittler. Ich habe also seinen Platz eingenommen.

Erstere ist eine dumme Frage. Natürlich! Und warum der Mummenschanz? Weil ich Freude daran hatte, deshalb! Oh, Du hättest ihre Gesichter sehen sollen, als ich die Maske fallen ließ!

Nein, Hieronymus, mir geht es gut. Das war ein Lachen. Ich habe also des Priesters Platz eingenommen und ihre Schicksale aneinandergeschmiedet. Sie werden schon noch sehen, was sie davon haben. Hatte ich übrigens erwähnt, daß die Braut zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit sterblich war? Sie war es! Sophie hat dem Bräutigam die Endlichkeit seiner Angetrauten nach der Zeremonie recht anschaulich vor Augen geführt. Das gute Kind… nicht sehr überraschend hat er sie zu einer der unsrigen erhoben, noch während sie in den letzten Zügen lag, doch eine Kleinigkeit ist ihm dabei entgangen. Du weißt doch sicher von den Eigentümlichkeiten meiner Linie?

Nicht? Nun, egal! Es gibt jedenfalls ein Vermächtnis, das zu beachten meine Nachkommen gehalten sind. Michael… Michael ist der Name des Bräutigams, jetzt fällt es mir ein! Und die Braut heißt… Lyra. Bewundernswert, daß mir ihre Namen bereits so geläufig sind! Wie ich jedoch auszuführen begonnen hatte, hatte Michael seiner Gattin nicht das ganze Erbe meines Blutes geschenkt. Jedes Versäumnis solcher Art hinterläßt eine Lücke im Gewebe der Wirklichkeit, und wo sich ein Platz bietet, findet sich alsbald etwas, das ihn zu füllen bereit ist.
Ich habe Dir doch schon einmal von den Welten jenseits der Nebel erzählt?

Wir werden das zu gegebener Zeit nachholen. Für heute genug damit, daß dort… Dinge lauern. Alte Dinge. Sehr alt. Nicht immer gleichermaßen freundlich. Ich spürte bald nach der Erschaffung der Jüngsten meiner Familie, wie etwas seinen Weg fand, und ich gestehe, ich war zunächst ein wenig beunruhigt.

Sei nicht albern! Aber vergiß nicht, daß unsere Kapelle auch einige Älteste der anderen Häuser beherbergte, und wie hätte das ausgesehen, wenn ich vor dem Hof der Nacht den Verlust so geschätzter Personen hätte bekanntgeben müssen. Wie sich jedoch herausstellte, waren es nur mindere Manifestationen. Nichts also, das meiner Aufmerksamkeit bedurft hätte. Zur gleichen Zeit schlossen sich die Türen des Hauses, so daß ich keine weiteren Störungen zu gewärtigen hatte. Ich erging mich daher der Betrachtung, lauschte der Emanation des Steins, aus dem unser Haus errichtet ist, all der Stimmen, die Eingang in die Mauern fanden. Weißt Du, was ich hörte?

Gequieke.

Nicht aus den Mauern, dummer Mensch! Aus den Kehlen dieser elenden Blutschläuche, die die Gäste in unsere Hallen eingeschleppt hatten. Dieses Gefolge von atmenden, schwitzenden Fleischsäcken. Das Dröhnen ihres Pulses, das Rasseln ihrer Lungen, die schrille Belanglosigkeit ihrer Gespräche allein reichten ihnen wohl nicht, um die Ruhe der Nacht zu stören. Geschmeiß!

Auch Du bist ein Sterblicher, ich habe es nicht vergessen. Wie könnte ich auch, das Leben strömt Dir ja aus jeder Pore deines Körpers. Bitte fühle Dich nicht persönlich gekränkt, mein Lieber, ich verachte Dich nicht mehr als alle anderen. Wo war ich? Ja… diese… Menschen also fürchteten sich wohl vor der Präsenz, die die Weltenscheide durchschritten hatte. Ich frage Dich, Hieronymus, was eigentlich erwarten diese Ahnungslosen, wenn sie mein Haus betreten? Denken sie, meine Gegenwart sei harmlos?

Das war eine rhetorische Frage, Du Neunmalklug. Es ergab sich jedenfalls eine gewisse Aufregung, und eine Person in Besonderheit hat meine Geduld bis an ihre Grenze geprüft. Ein Laut mehr, und ich hätte sie… nun, die Wände meines Hauses sind stets durstig. Letztlich ist ihr wohl die Tatsache zugute gekommen, daß ich trotz aller Unannehmlichkeiten so hervorragender Laune war.
Man bemühte sich derweil redlich um eine Lösung der für einige mißlichen Lage, und von irgend kursierte gar eine Schrift, die Hinweis gab, welcher Natur die Tragödie war, die vor aller Augen abzuspielen sich begann.

Es endete nicht tragisch? Dazu kann man stehen, wie man mag. Doch Du scheinst mir von einem falschen Verständnis der Tragödie auszugehen, mein Lieber. Vergewissere Dich ihres Ursprungs! Dieser unlängst verstorbene Dichter, recht begabter Knabe, wenngleich in späteren Jahren der Kavaliersschnupfen seinen Verstand raubte, hat eine interessante Abhandlung darüber geschrieben.

Bertold wer? Nein. War der auch Syphilitiker? Egal! Um meine Schilderung des Abends aber endlich abzuschließen, will ich, bevor wir uns meinethalben der Literaturgeschichte zuwenden, meine Erinnerungen zu Ende ausführen.

Sophie beklagte zunächst die Notwendigkeit, den ersten Schritt in Lyras Werdung zu vollenden, doch schließlich fügte sie sich in die Zwangsläufigkeit des Fadenspiels. Ihr Einlenken war dabei jedoch nicht gänzlich ohne Bitterkeit. Manchmal tatsächlich kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, sie würde an mir gar so etwas wie einen Zug von Grausamkeit wahrnehmen wollen. Sie hatte wohl schon immer zu viel Mitleid! Ich selbst habe getan, was zu tun war, und Michael hat mir beim Vollzug des Mysteriums einige Handreichungen geleistet. Er ist nicht ganz ohne Talent, dieser junge Mann. Das Ergebnis ist durchaus zufriedenstellend, und die Braut trägt ihre Bürde ohne zu klagen.

Das ist normal, zu Beginn schreien sie alle. Es ist dies allerdings eher ein Reflex des Körpers, der die Transformation der Seele zu leugnen sucht, bis er die Unabwendbarkeit zu akzeptieren gezwungen ist. Erst danach erweist sich, ob die Person stark genug und von ausreichender Substanz ist, sich von den Lockungen der Schatten abzuwenden und an die Oberfläche zu erheben. Lyra hat bestanden.

Ich führte sie durch die Menge und ließ sie die Türen des Hauses öffnen. Michael sprach noch einige Worte, dann entließ ich die Gäste und hatte mein… unser Haus endlich wieder für mich. Welche Ruhe! Ich kann Dir nicht in Worten bedeuten, welch Labsal die Leere des Anwesens für mich ist, Hieronymus. Abgesehen natürlich von diesen Leuten, die neuerdings hier wohnen. Nur ich, der Äther… und Sophie. Ich habe es doch tatsächlich ein wenig vermißt.


Novalis


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