Chroniken » Chroniken V. - Die Zeit der Waage: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2008
2008.03.10 - Der Fall des Arthur Gustav von Veil - Teil 2
09.03.2008 - 22:47

Draußen war es kalt. Der stürmische Wind drohte mir jenen Boden unter den Füßen zu entreißen, der aus nicht mehr als ein paar regennassen Ziegeln des alten Fenstersimses bestand. Meine Finger hatten sich zu beiden Seiten in den rutschig feuchten Holzläden festgekrallt und ich spürte, wie ich mir selbst ein Lied summte. Kein Bestimmtes, irgendeines. Und hier war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mich erinnerte, dies alles schon einmal erlebt zu haben. Ich blickte hinunter auf die schwarzen Baumwipfel, die sich in den Böen hin und her wogten und wusste, dass ich nun springen würde. Es gab einfach keinen Weg daran vorbei. Entgegen aller Logik, entgegen dem, was ich im Heute weiß, lehnte ich mich vor und schloss meine Augen.

Trügerische Schwerelosigkeit umfing mich.

Und in der Sekunde, bevor das nächtliche Erdreich mir in einem finalen Streich alle Lebenskraft aus dem aufgegebenen Körper hätte prügeln sollen, sah ich sie. Und ich dachte in diesem Moment, es wäre das letzte Mal. Ich spürte mich fragen, ob sie wohl auch an mich denke und was sie wohl sagen würde, wenn sie es erfährt. Nun, heute weiß ich es. Denn es kam nicht zu dem, was hätte kommen sollen.

Der Schlag erfolgte.

Doch dies war nun anders, als es damals wirklich geschehen war. Statt mich Eins werden zu lassen mit der nächtlichen Grasnabe, hatte mich die Gravitation direkt auf den kalten Steinboden eines feuchten Kellergewölbes aufschlagen lassen. Über mir dümpelte das schwache Licht einer alten Glühbirne, die an einem langen Kabel von der Decke herunter baumelte und ab und an zu flackern anhub. Außerhalb des dreckigen Lichtkegels versoff das Gewölbe in ein unheilvolles Schwarz, und lies weder dessen Größe noch Beschaffenheit erahnen. Der Geruch von feuchter Erde, Moder und Schimmel erfüllte meine Sinne. Ich bemerkte, dass ich noch immer auf dem Boden lag und mich bislang nicht zu bewegen gewagt hatte. Wer die Höhe meines Fensters kennt, dem brauche ich nicht zu sagen, dass ich mich offensichtlich nicht mehr als einen Atemzug und einen Pulsschlag vom Tode entfernt befand. Doch mit einem derartig apokalyptischen Schmerz, welcher auf mich niederfuhr, als ich versuchte, mich aufzurichten, hatte ich nicht gerechnet. Augenblicklich wurde mir schwarz vor Augen, und als ich wieder zu mir kam, lag mein Kopf wieder auf dem kalten Stein. Und mit dem feuchten Moder- und Schimmelgeruch vermischte sich der Geruch meines Blutes.

Dann hallten plötzlich Schritte durch das Gewölbe. Sie waren leicht und bedacht. Unter größten Anstrengungen gelang es mir, mein Haupt zu heben. Und durch einen roten Schleier vor meinen Augen konnte ich eine Gestalt erkennen, die sich aus dem Schwarz, jenseits des Lichtkegels, zu lösen begann. Es war Lyra. Sie sprach zu mir.

„Hochmut kommt vor dem Fall, Argus. Und glaube nicht, dass mit dem menschlichen Tod auch das Fallen ein Ende nehmen muss. Ach, wärest Du doch der Argus, der Du früher einmal warst. Bevor…“

Und aus der Dunkelheit erschien eine weitere Gestalt. Claire.

Sie sagte: „DU bist MEIN Haus, Argus!“

Und plötzlich spürte ich tief in mir, dass der Hochmut, der mich zu Boden gestreckt und dabei fast besiegt hatte, einen neuen Feind bekommen sollte. Die Worte meiner Liebsten brannten wie die Morgensonne in meinem Herzen. Und hinter dem Totenhügel verletzter Eitelkeiten erhob sich um meine Seele eine neue Armee, in eine grausame Schlacht zu ziehen, bei welcher allein ich am Ende als Verlierer schon fest stand. Und so geschah es, dass die Liebe und die Demut mich vorantrieb, während der Zorn und der Stolz meinen Körper mit fast unerträglichen Schmerzen niederdrückten. Ich weiß nicht, wie lange diese Schlacht andauerte.

Letztendlich wachte ich auf.

Ohne einen Gedanken an die Tageszeit zu verlieren drückte ich mit aller Kraft gegen den Deckel meines Sarges, der daraufhin in weitem Bogen aufflog und sich in der Luft mehrmals um sich selbst drehte, bevor er mit lautem Gepolter zu Boden fiel. Erleichtert stellte ich fest, dass die Sonne gerade hinter den letzten Baumwipfeln verschwunden war. Der Abendwind strich über meine Brust. Offensichtlich hatte ich am Morgen das Fenster nicht achtsam genug geschlossen. Rasch erhob ich mich und wollte gerade die Läden schließen, als ich auf dem Fenstersims etwas gewahr wurde. Es sah zunächst aus, wie ein grauhaariger Skalp. Jedoch als ich mich näherte, erkannte ich – nicht ohne über deren Auffinden verwundert zu sein – die Locken und Strähnen einer alten Herrenperücke, die dort in der herannahenden Dunkelheit silbrig glitzerte...

(Argus - Aus dem Leben eines Toten)


Argus


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