Chroniken » Chroniken III. - Die Zeit des Rades: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2006
2006.05.20 - Lazarus Fest: Hoffnung ist ein gutes Frühstück. Aber ein schlechtes Abendbrot.
21.05.2006 - 13:59

"Was auf der Fahrt war? Hm..."

Meine Bilder waren nicht klar... fühlte mich wie ein abgebranntes Zündholz auf einem unruhigen, dunklen Wasser. Schätze, das liegt an dem Schlaf, den ich in den vergangenen Nächten gebraucht hätte. Um genau zu sein, schlafe ich schon seit einigen Wochen nicht mehr wirklich… wegen Celine. So habe ich sie getauft. Sie besucht mich jede Nacht, wenn mir vor Müdigkeit die Augen zuzufallen drohen. Dann sitzt sie plötzlich in dem alten Ohrensessel an meinem Bett, oder steht an meinem Fußende – ihre zarten Finger in dem verzierten Holz der hohen Bettpfosten vergraben… und blickt zu mir herüber. Stumm und mit weit geöffneten Augen. Lange Strähnen ihres braunen, blutverkrusteten Haares sind ihr ins Gesicht gefallen, doch kümmert es sie nicht. Ihr altertümliches, weißes Kleid – mit Blut und Erde verdreckt – schmiegt sich noch immer um ihren liebreizenden Körper, doch ist es ihr einerlei. Sie führt mich jede Nacht an diesen Ort, welcher mir zugleich fremd und vertraut ist. Ich weiß, dass ich ihn tief in meinen Erinnerungen bereits besucht habe… vielleicht sogar mehrmals. Und doch fehlen mir die entscheidenden Anhaltspunkte, ihn ausmachen zu können. Dabei will Celine doch genau dies… denn dort wurde sie ermordet. Keine Nacht, in der ich nicht vom Schweiß durchnässt wieder in diese Welt zurückkehre. Keine Nacht, in der ich nicht den Abend verdamme. Und noch immer nicht ist geklärt, warum gerade ich bestimmt zu sein scheine, von diesen Träumen heimgesucht zu werden. Mit dem Zimmer, in welchem ich schlafe, hat dies nichts zu tun – soviel sei mir versichert.

Schwarze Wolken zogen über mein Haupt hinweg, als ich die alte Allee mit ihren sturmzerfurchten Erlen und den unzähligen Überresten von Ästen und Blattwerk befuhr, die Zeugnis des vorüber gezogenen Unwetters ablegten. Es war, als wär ich der einzige Mensch in dieser düsteren Welt. Bald stieß ich aus dem Zentrum der Stadt immer mehr ins Hinterland und befand mich mit einem Mal in einem Tal, welches sich – scheinbar unberührt von der Zeit der letzten zweihundert Jahre – links und rechts der Wupper die dicht bewaldeten Hügel hinaufschmiegte, welche wie stumme Kapitäne über meinen Kurs wachten. Ich wusste nun, dass ich richtig war und holte aus meinem Wagen das an Geschwindigkeit heraus, was die schmalen, ausgefahrenen Gassen zwischen all den uralten Fachwerkhäusern erlaubten. Serpentinenartig schmiegte sich die Straße schließlich den kleinen Berg hinauf, dessen Kuppe mir jenes alte, verwinkelte Schloss preisgeben würde. Ich fuhr mittlerweile viel zu schnell, so dass mein Wagen mehrmals über den nassen Blättern ins Schlingern kam. Doch ich spürte nun deutlicher denn je dieses abgründige Verlangen, das Schloss zu erreichen, bevor...bevor WAS? Ich wusste es nicht. Ich war gekommen, um Aurelia zu sehen. Jene, die ihre Unsterblichkeit für mein Leben hergegeben hatte – und Tschesar, der mir in jener Nacht wie ein heller, sicherer Fels in der blutrünstigen Brandung des Schicksals erschienen war.

Am Eingang erwarteten meine Angehörigen geduldig meine Ankunft. Sophies Haare wirkten wie aus satter Rubinseide gesponnen und fielen in kräftigen Locken auf ihre blassen Schultern. Lyra, Vivien und Lorenzo, Fabienne, die wir für den Moment als Gast unter uns aufgenommen hatten… und Claire. Lange hatten wir uns letzte Nacht im gemütlichen Kaminzimmer unterhalten… hatten uns tief in die Sessel fallen lassen und uns von uns erzählt. In ihr spürte ich diese gewisse Naivität, diese Unschuld, die uns Menschen bisweilen noch erhalten bleibt, solange die Spuren unserer ersten Schritte auf dem dunklen Parkett noch sichtbar sind. Ich hatte in dieser Nacht sehr viel davon gekostet und erst als ich sie zu ihrem Zimmer begleitete, konnte ich schmecken, wie sich in den Wein meiner Erinnerungen eine wehmütige Note gemischt hatte. Doch nun, als sie mir dort gegenüberstand – die Haare akkurat nach hinten gesteckt, das Kleid in einem dezenten rosé – die Unschuldigkeit in Person – und mich mit ihren funkelnden Augen freudig begrüßte… da wusste ich, dass nichts von der letzten Nacht je verloren sein wird. Und für diesen Moment strömte ein warmes Gefühl durch meine übernächtigten Muskeln.

Es war Hoffnung.



Dann traten wir ein.

Die Luft knisterte spürbar und es war der Geruch einer unheilvollen Stimmung in der Luft, kaum wahrnehmbar für einen Menschen vermutlich. Doch erhaben von diesem trüben ätherischen Dunst wurden wir von Aurelia und Tschesar empfangen. Wie typisch für sie… waren sie in völlig schlichte Gewänder gehüllt und strahlten durch ihre bloße Anwesenheit ihr Licht in die Nacht. Ich spürte Aurelias Berührung meiner Hand und ihr Blick lies mich auf der Stelle in einen unendlich großen See der Güte fallen. Ich fiel vor ihr auf die Knie und versuchte ihr meine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Doch es kam bloß das Stammeln eines Menschen zum hervor, der für diesen Augenblick von seinen Gefühlen überwältigt wurde.

Doch ich spürte noch mehr… weiter entfernt, jedoch stark… vielleicht zu stark. Der Motor, der mich hierher geführt hatte, der Grund meiner unerklärlichen Eile…

Eine dunkle Angst befiel mich.

Der Abend zog an mir vorüber, als betrachtete ich eine alte Rathausuhr, aus welcher von Zeit zu Zeit, kleine, bunt gekleidete Puppen erschienen, die dem Zuschauer unter dem Geläut der Glocken ihr ständiges Spiel vorführten. Es traten Sterbliche, wie auch Unsterbliche auf. Zornerfüllt, die Brust vor Stolz fast platzend! Immer darauf achtend, stets erhaben und überlegen zu wirken. Ich sah sie, wie sie ihre Kämpfe austrugen. Kleine und größere. Andere wiederum wollten sich durch ihren Witz und ihre Geistesschärfe profilieren. Nimmermüde Phrasenpapageien! Ich spürte, wie es mich zunehmend anwiderte.

Aber ich möchte die Schilderung meiner Eindrücke nicht zu sehr in die Länge ziehen. Das Gefühl der dunklen Angst war natürlich in den Ereignissen begründet, die sich am späten Abend in der Kapelle zugetragen hatten. Selbstverständlich hätte niemand diese Ereignisse vorhersehen können. Jedoch gab es einen Zeitpunkt, als Aurelia den Ring von meinem Kissen nahm, da dieses Gefühl plötzlich unmenschlich stark und unmittelbar war. Doch auch jetzt hätte ich nichts unternehmen können… geschweige denn wollen. Schließlich schien nichts darauf hinzudeuten, dass ich mit meinem Gefühl Recht haben könnte. Und Aurelias Trauung wollte ich bestimmt nicht so peinlich unterbrechen.

Was später geschah konnte ich nur mit einem Gefühl des Schocks und der Lähmung hinnehmen. Noch nie hatte ich mich so machtlos gefühlt. Hatte ich mir doch geschworen, Aurelia mit allen Mitteln zu beschützen. Doch dies waren Dinge, in die sich einzumischen ein Mensch nicht vorgesehen war. Und so verblieb ich die meiste Zeit bei Claire… der armen Claire. Ihre Hand hielt meine fest umklammert. Und selbst durch diesen festen Griff hindurch konnte ich ihr Herz rasen spüren. Mögen ihre funkelnden Augen in jenen Minuten einen zu tiefen Blick hinter den Vorhang gekostet haben…

…Minuten verstrichen….

Dann war es irgendwann vorüber…. Alle waren gegangen…Und sie, die einst Aurelia war, hockte zusammengekauert auf der dunklen Holzbank vor der Kapelle… die Knie zu sich herangezogen und mit ihren Armen umschlungen. Eine Jeans und eine Bluse. Das waren Dinge, die Claire ihr hatte besorgen können. Für Schuhe hatte es für den Moment nicht gereicht. Sie schluchzte… Morgen würde sie alles vergessen haben… denn sie war ein Mensch.

Mein Blick wanderte hinüber zu Claire. Das Gefühl der Angst war gewichen…

...und es war nur noch Hoffnung.

(Argus - Aus dem Leben eines Toten)


Argus


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