Chroniken » Chroniken III. - Die Zeit des Rades: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2006
2006.02.25 - IV. Akt: Notizen vom Bühnenrand - eine Rezension
17.03.2006 - 19:39

Drago – wie ist doch sein Nachname? – sonst eher Isidors getreues Faktotum, tat mir fast leid, wie er in der ungewohnten Funktion des Gastgebers und Regisseurs im übertragenen Sinne vor den Vorhang trat und seine Einführung stammelte, sichtlich unwohl in einem neuen zweireihigen Anzug, zu dem die ausgetretenen und abgelaufenen Budapester nicht so recht passen wollten. Nichts in der Einladung wies auf seine Funktion an jenem Abend hin, so dass ich kein geeignetes Gastgeschenk zur Hand hatte (für Isidor hatte ich de Séchelles Theorie des Ehrgeizes mitgebracht); ich hätte mich sonst um eine handliche Ausgabe von Machavellis Fürst bemüht. Ich schenkte ihm daher meine Mitwirkung in einem mediokren Stück von Eichendorff, das im Verlaufe des Abends fast wie ein play within a play gegeben wurde – eine großzügige Gabe, will ich meinen, denn ich litt wie ein Hund, und die vom Autor vorgegebene fortwährende Anrufung göttlicher Gnade forderte von mir erheblich mehr schauspielerische Begabung als sie einem Rezensenten üblicherweise ansteht. Das Niveau einer Shakespeare-Tragödie konnte freilich niemand von uns erreichen, obwohl der Abend als solcher irgendwann einem gänzlich unerwarteten Höhepunkt zustrebte und das schon sicher erscheinende hochdramatische Finale nur mit einem überraschenden Bühnentrick wie dem Portias im Kaufmann von Venedig abgewendet werden konnte.

Shakespeare musste, wie wir alle wissen, Sir John Falstaff auf Drängen des entzückten Publikums auf die Bühne zurückholen, sei es unter eigenem Namen, sei es nur leicht abgewandelt in der Gestalt des Sir Toby Gulch; auch bei dieser Aufführung versammelten sich die allseits geschätzten komischen Figuren der „Theaters der Vampire“ auf der Bühne, und fast jedem wurde sein Einsatz geradezu auf den Leib geschrieben. Lothringus siedelte seine Malvolio-Rolle ganz im Sinne des Barden zwischen Tragödie und komischer Groteske an: wie ein fleischgewordener Bühnenwitz wurde sein steifer Körper mehrfach zwischen Bühne und Garderobe herumgetragen, bis man ihn - offenbar der Handhabung eines schweigsamen vampirischen Möbels müde geworden – mit ein paar Zaubertricks auf die eigenen Beine stellte. Seine Animation sorgte zunächst für Aufregung, dann einigen Lärm, gipfelte in der Demütigung eines Hausältesten auf offener Bühne und schließlich in einigem Knurren in den Rängen und Logen.

Jonathan, der sich nun – nach Verlassen des Hauses Khaan - Asphyx nennt, gab seinen Goetheschen Mephisto und streute großzügig Pointen unterschiedlichen Niveaus ein, ehe er wie gewohnt auf die Knie gezwungen und wie die geschorene Ziege der Gebrüder Grimm durchs Dorf getrieben wurde. Tschesar spielte die ebenso hilfsbereite wie hilflose Geistlichkeit, der weihevolles Predigen besser zu Gesicht steht als glutvolles Rezitieren und die nach eher komischem Zwischenspiel zum Ende hin noch ihren großen Auftritt hat. Isidor schließlich ließ seine Stimmgewalt erst so spät erschallen, dass er wie der ham zwischen zwei dicken Scheiben Sandwich (Lothringus’ Wiedererweckung und dem „Auftritt“ von Mercurius) wirkte. Schlechtes Gefühl für Timing ist freilich nicht ganz ungewöhnlich bei jemandem, der sonst nur Hauptrollen gewohnt ist.

Der erwähnte Auftritt des Ordo Arcanum, in seiner Darstellung der verrückten Teegesellschaft nicht unähnlich, gab dem zunehmend eher an Improvisationstheater als sorgfältige Inszenierung gemahnenden Abend eine gänzlich neue Note. Die Herrschaften – zwischen Narrenkostüm, Teufelsmaske, Zaubererrobe und (durchaus nicht reizloser) papierner Sündhaftigkeit maneuvrierend – übernahmen mehr oder minder die Regie des Stücks und verwiesen die Theaterleitung in Form vor allem des ehrenwerten Isidor und seines getreuen Adlatus Drago in den Bühnenhintergrund. Zwar ließ man alle Chargen – einst die bestbezahlten Darsteller auf den Bühnen des lebenden Theaters – weiter ihre Grimassen schneiden oder ihre Pointen platzieren, doch das Stück erfuhr nun eine Lenkung in dezidiert pikantere Bereiche, die durchaus von Fleischlichkeit, wenn auch von weniger sinnlichen als vielmehr morbiden Gelüsten geprägt sind. Zur Errettung nicht weniger als unserer ganzen Art, als bittere Medizin für einen ach so kränkelnden Hof der Nacht wurde die Opferung eines Geprägten sozusagen ärztlich verordnet. Zehn Sterbliche wurden von Mercurius – wie üblich in der Maske des Narren – und den Seinen ausgewählt; einer davon sollte sein Blut zu unserer aller Segen vergießen.

Wie überraschend, dass sich jene glücklichen Zehn nicht gerade darum stritten, wer denn nun die ach so dankbare Rolle eines Märtyrers übernehmen sollte. Wie jene Unglücklichen, die einst von einem sinkenden Schiff auf ein Ruderboot gerettet darum knobeln mussten, wer denn nun von den anderen gegessen werden soll, so waren die Ärmsten angehalten, die Wahl untereinander zu treffen. Es mag den Herren zur Ehre gereichen, dass sie sich dazu entschieden, die Damen unbeschadet gehen zu lassen; eine edle Geste, die auf der Bühne todsicher großen Eindruck macht und auch hier ihre Wirkung nicht verfehlte. So reduzierte sich die Auswahl auf nurmehr vier: ein deutscher Soldat, weniger von preussischer Entschlusskraft als vielmehr germanischem Stoizismus geprägt; ein blässlicher junger Mann mit unruhigem Blick und mahlenden Kiefern; der zuvor so selbstsichere Maler von Veil, nun wie ein Poesker Held zwischen Verzweiflung, Hysterie und Lethargie hin- und hergerissen; und der Schotte McCallum, ein Prachtbeispiel seiner kriegerisch-keltischen Abstammung, der mit zornblitzenden Augen kaum das Ansinnen verbarg, im Fall der Fälle seine Haut nicht ohne Gegenwehr zu verkaufen.

McCallum war ganz klar mein Favorit. Wenn es schon zu solch einem barbarischen Ritual kommen sollte, dann wünschte ich mir wenigstens ein aufregendes Finale mit blitzenden Schwertern, so wie den leichenübersäten Schluß des Hamlet. Doch ach! – ganz gemäß den Klischees der moderneren Tragödie fiel die Wahl auf den sensiblen Künstler, und wenngleich die Entscheidung, dass dafür der prächtige Zuchtstier unbeschadet vom Schlachtplatz geführt werden konnte, bei einigen Damen hörbare Erleichterung auszulösen schien, so bekümmerte mich die Vorstellung zutiefst, dass gerade jener, der der Welt weit über den Hof der Nacht hinaus obwohl selbst sterblich Unsterbliches zu schenken in der Lage war, in den Rang des schwarzen Ziegebocks erhoben wurde.

Doch sind wir noch nicht am Ende der Inszenierung angelangt. Hatte ich nicht bereits zu Anfang auf den Kaufmann von Venedig verwiesen? Nicht eine Portia, sondern gleich drei warfen sich zwischen von Veil, der mittlerweile einen angemessen verzweifelten Antonio gab, und la forza del destino, denn ein williger Shylock mit gezücktem Messer war nirgendwo zu finden – eher ein unwilliger, fand sich der mittlerweile reichlich gereizte Isidor doch nur zähneknirschend zur schändlichen Tat in seinem eigenen Hause bereit. Doch bevor es so weit kam fing McCallum doch noch an, bedrohlich mit einem Schwert zu fuchteln, Sophie von Kühn warf sich tränenüberstömt und schützend über ihren Erwählten und das Haus Samaria in Gestalt des edlen Tschesar forderte ebenso dröhnend wie salbungsvoll die Verschonung des unglücklichen Opfers. Was an Portianischem Winkeladvokatentum mangelte, machte offenbar die schiere Übermacht der Verteidiger wett. Anders als bei Shakespeare gewährte das Schicksal – in Gestalt des Ordo Arcanum - jedoch nur eine Frist von drei Monaten, nach denen das Improvisationsstück unter neuer Leitung gewissermaßen in die Verlängerung geht.

Großes Theater oder schamlose Schmiere? Ich kann nicht verhehlen, dass die Inszenierung nach eher betulichem Start zum Ende hin zunehmend fesselnder wurde, und eine Steigerung ist in jedem Fall dramaturgisch geschickter als ein rapider Spannungsabfall nach spektakulärem erstem Akt. Der Unterhaltungswert war unbestritten; doch hatte ich bei dem feierlichen Ausruf von Bacchanalien anderes erwartet als einen vergleichweise asexuellen Bühnenzentauren, dessen Vater ein Konversationsstück und dessen Mutter die Music Hall gewesen ist, und der ganz Versprechen bleibt, ohne je wirklich seinen Höhepunkt zu erreichen.

(aus den Aufzeichnungen von Lawrence Edward Selwyn, Esq.)


Lawrence


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