Buch der Masken
Hathor
01.03.2006 - 22:54

Erwählte, Haus Eresh

(dargestellt von Nicole Eisenblätter)

"Ich hab mich gesehnt danach, mein Herz zu verliern.
Jetzt verlier ich fast den Verstand.

Totale Finsternis. Ein Meer von Gefühl und kein Land.

Einmal dachte ich, bricht Liebe den Bann.
Jetzt zerbricht sie gleich meine Welt.

Totale Finsternis. Ich falle, und nichts was mich hält."
(Tanz der Vampire)

"Wie betrachten wir den Tod?

Überhaupt nicht. Wir tun, als gäbe es ihn überhaupt nicht, verstecken die Sterbenden in Krankenhäusern, schminken die Toten, dass sie aussehen, als schliefen sie, und wenn wir doch einmal gezwungen sind, die Realität des Todes zur Kenntnis zu nehmen, kostümieren wir ihn mit gewaltigen Massen von Pathos und Gefühlsduseligkeit.

Die Herausforderung des heutigen Lebens scheint nicht zu sein, dem Tod, wenn er denn kommt - und er kommt ja zu jedem, unabwendbar und unkalkulierbar -, mutig entgegenzutreten, sondern vielmehr, ihm so lange wie möglich davonzulaufen, ihm zu entkommen, im Idealfall für immer.

Unausgesprochen gehen wir von der Grundannahme aus, dass der Tod ein Betriebsunfall ist, eine lästige Erscheinung, die es nach Möglichkeit zu beseitigen gilt.

Denke an den Tod, sagt Seneca. Wer dies sagt, heißt dich, an die Freiheit zu denken.
Wer sterben gelernt hat, der hört auf, ein Knecht zu sein."
("Der letzte seiner Art", Andreas Eschbach)


Meine liebe Tochter,

ich möchte mich von Dir verabschieden.

Ich werde fort gehen, für immer. Nein, weine nicht, denn ich bin mir sicher, dass Du mich eines Tages verstehen wirst. Ich muss es tun. Ich will Dich und Deinen Vater nicht alleine lassen, aber ich habe keine andere Wahl mehr.

Eine Macht stärker als die Liebe zu Dir und Paps zieht mich fort, und ich kann mich ihr nicht länger widersetzen.

Es tut mir so schrecklich leid. Nein, bitte weine nicht, sieh mich an, mein Kind, sieh mir in die Augen! Oh, ich liebe Dich so sehr, dass es mir das Herz zerreisst, Dich zurück zu lassen, aber ich habe keine Wahl.

Ich kann Dir nicht erklären, warum, denn das könntest Du nicht verstehen, aber bitte, bitte mein Kind, glaube mir, dass ich Dich so sehr liebe, dass ich immer um Dich weinen werde. Siehst Du den Schmerz in meinen Augen? Bitte, liebes Kind, verzeihe mir was ich tue, auch wenn es Dir im Moment unverzeilich erscheint.

Und vielleicht, wenn es das Schicksal will, werden wir uns wieder sehen, wenn auch an einem fremden Ort und zu einer ungewissen Zeit, aber, leider, nicht einmal das kann ich Dir versprechen.

Oh es tut so weh, Dich hier allein zu lassen, aber mir bleibt keine Wahl. Bitte, meine liebe Tochter, vergiss mich niemals und versuche mir zu verzeihen. Und eines Tages wirst Du mich vielleicht verstehen.

Vergiss nie, was ich Dir heute gesagt habe, es soll für immer Dein und mein Geheimnis sein.

Lebe Wohl. Ich liebe Dich.

(Rachel Sarah Morgenstern zu ihrer Tochter Pia, 14.11.1989)



Schon seit ich denken kann, fehlte mir etwas in meinem Leben, diese stets vorhandene Sehnsucht nach etwas, von dem ich nicht wusste, was es sein soll, wie es aussehen soll, wie ich es bezeichnen soll, geschweige denn, erkennen soll, wenn ich ihm begegne.

Ich habe es gefunden.

Seit ich zum ersten Mal den Hof der Nacht betrat, zieht es mich immer wieder zurück, und das, obwohl ich noch nie zuvor dem Tod so nah war, wie bei meinen ersten Begegnungen.

Vielleicht ist es Schicksal oder Bestimmung, wer weiss das schon? Meine Mutter hätte sicher Antworten gewusst. Sie hatte immer Antworten auf meine Fragen, auch auf die Fragen, die ich gar nicht gestellt habe. Sie war immer für mich da, bis zu dem Tag im November des Jahres 1990, in dem sie zu mir kam, sich von mir verabschiedete und mit mir sprach, bevor sie wegging.

Was sie sagte, machte damals alles keinen Sinn für mich, aber heute? Sollte vielleicht doch die Möglichkeit bestehen, dass ich sie einmal wieder sehen werde? Kann das sein?

Seit dem Verschwinden meiner Mutter und dem tragischen Selbstmord meines Vaters hatte ich nie mehr das Gefühl von Familie oder Geborgenheit. Selbst meine Flucht nach vorne, in Arbeit und Karriere, selbst die gute Freundschaft zu meinen Kollegen konnte mir nie dieses Gefühl geben. Dennoch, mein Beruf und meine Karriere bedeuten mir noch immer sehr viel, obwohl ich mich längst in den Augen von Vicente verloren habe.

Und war ich nicht schon immer auf der Suche nach zu allem bereiter und hingebungsvoller Liebe? Hatte ich auch diese Sehnsucht nicht schon immer hinter meinen beruflichen Bestrebungen versteckt?

Aber ist das den Preis wert? Ich fürchte ja, denn ich gehe immer wieder zurück, begebe mich immer wieder in große Gefahr, aber wie es aussieht, scheine ich die Gefahr zu lieben.

Am innerer Stärke und Selbstbewusstsein hat es mir nie gemangelt, trotz meines immer vorhandenen Gefühls der Einsamkeit. Aber was ich gefunden habe, was ich gesehen habe, hier am Hofe der Nacht, liegt jenseits dessen, was ich mir je erträumt hatte.


Hathor


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