Chroniken » Chroniken II. - Die Zeit des Wandels: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2005
2005.08.13 - II. Akt: Das Antlitz der Leidenschaft
14.08.2005 - 18:18

Ladies and Gentlemen,
liebe Gäste des Club Louis,
verehrte Gastgeberin,

nun habe ich also die Ehre und das Vergnügen, im Namen von Sir Archibald etwas zum Thema Leidenschaft vorzutragen.
Leidenschaften.....sie sind die dunkelsten und urtümlichsten Triebe des Menschen.

Doch die meisten Menschen unterdrücken ihre Leidenschaften, pressen sie in ein Korsett der Zivilisation, ordnen sie gesellschaftlichen Regeln und Zwängen unter.
Doch ich habe mich gefragt wie es wohl aussehen mag, wenn ein solcher „zivilisierter“ Mensch ganz plötzlich, unverhofft, in das nackte, unverhüllte Antlitz entfesselter Leidenschaften blickt.

Eine solche Szene beschreibt Joseph Konrad in seinem Roman „Herz der Finsternis“ und dies soll nun mein kleiner bescheidener Beitrag zu diesem Thema sein.
Für all jene, die dieses Werk nicht kennen, die Szene beschreibt eine Dampferfahrt auf dem Weg in das Innere des schwarzen Kontinents. Die Protagonisten dieses Buches beobachten vom jenem Dampfer aus, was rings um sie herum geschieht :

„Wir drangen tiefer und tiefer ins Herz der Finsternis ein.
Es war sehr ruhig dort. Nachts wirbelte hinter dem Baumvorhang zuweilen
Trommeldröhnen den Fluß hinauf und blieb ganz schwach bis zum Morgengrauen hörbar, als schwebe es hoch über unseren Köpfen in der Luft. Ob es Krieg bedeutete, Frieden, oder Gebet, wir konnten es nicht entscheiden. Die Morgendämmerung wurde von einer frostigen Stille angekündigt; die Holzfäller schliefen, ihre Feuer verglimmten; das Knacken eines Asts ließ uns hochfahren.
Wir waren Wanderer auf prähistorischer Erde, auf einer Erde, die wie ein
unbekannter Planet aussah. Wir hätten uns einbilden können, die allerersten Menschen zu sein, die eine mit einem Fluch belegt Erbschaft antraten, welche nur unter den schrecklichsten Qualen und mit äußerster Anstrengung auszuhalten war.

Aber jäh, wenn wir uns um eine Biegung kämpften : Schilfzäume, spitze Grasdächer, ein Geschrei plötzlich, ein Wirrwarr aus schwarzen Beinen, klatschende Hände überall, stampfende Füße, sich wiegende Körper, rollende Äugen hinter schwerem, bewegungslosen Blattgrün. Der Dampfer keuchte langsam den Rand eines schwarzen und unverständlichen Wahnsinns entlang. Der prähistorische Mensch verfluchte uns, betete uns an, hieß uns willkommen – wer konnte es sagen ?

Wir waren vom Verständnis unserer Umgebung abgeschnitten;
schwebten wie Gespenster vorbei, staunend und insgeheim entsetzt, so wie das gesunde Menschen angesichts einer begeisterungsglühenden Revolte in einem Irrenhaus wären. Wir konnten nichts verstehen, weil wir zu weit weg waren, und wir konnten uns an nichts erinnern, weil wir in der Nacht der Urzeiten fuhren, jener Zeiten, die vergangen sind, fast ohne eine Spur zu hinterlassen –
eine Erinnerung gar.

Die Erde schien unirdisch. Wir sind daran gewöhnt, auf die gefesselte Gestalt
eines niedergerungenen Ungeheuers zu blicken, aber hier – hier sahen wir auf ein ungeheuerliches und freies Etwas. Es war unirdisch, und die Menschen waren – nein, sie waren nicht unmenschlich. Genau, versteht ihr, das war das Schlimmste
von allem – der Verdacht, daß sie nicht unmenschlich waren.
Es drang uns langsam ins Bewußtsein.
Sie heulten und hüpften, sie wirbelten herum, schnitten grausliche Gesichter;
was uns aber erschreckte, war just der Gedanke an ihre Menschlichkeit
– die unserer glich – der Gedanke an die entfernte Verwandtschaft mit diesem
wilden und leidenschaftlichen Aufruhr.

Häßlich. Ja, es war ziemlich häßlich, aber wenn wir nur Manns genug waren, mußten wir uns eingestehen, dass ins uns die allerdings äußerst schwache Spur einer Antwort auf die schreckliche Offenheit dieses Getöses lebte, der vage Verdacht, es gebe darin – wie fern wir auch der Nacht der Urzeiten gerückt sein mochten – einen Sinn, den wir zu erfassen vermochten. Und warum nicht ?
Der Geist des Menschen ist zu allem fähig – weil alles in ihm lebt, die ganze Vergangenheit und die ganze Zukunft. Schließlich, was war denn dort ?
Freude, Angst, Leid, Hingabe, Mut, Wut – wer weiß es ? -, aber die Wahrheit –
die Wahrheit legte ihre Verkleidung aus Zeit ab.“

(Joseph Konrad. Herz der Finsternis)


Luna


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