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Die Dämmerung naht
12.06.2013 - 09:32

Die Dämmerung naht.

Das ist ein Denkspruch, ein Wahlspruch unseres Hauses. Aber was bedeutet er?

Um ihn zu verstehen, muss man die Vergangenheit verstehen. Die Geschichte ist eine Spirale. Fort und immer fort dreht sie sich.

Aber wir, die wir alt sind, zeitlos, nicht Teil dieses Kreises, wir neigen dazu zu vergessen. Wir wissen nicht warum das so ist, aber wir glauben, dass der Geist nur in der Lage ist, eine bestimmte Menge an Eindrücken, an Träumen und an Wissen zu fassen. Und wenn er gefüllt ist, dann geht etwas verloren. Nach und nach.

Und glaube mir, unser Geist ist mit den Träumen vieler Menschenleben gefüllt. Er fließt schier über davon.

So wie mit uns, so ist es auch mit den anderen unserer Art, die viele Jahrhunderte überdauert haben. Wir alle verlieren uns nach und nach darin. Träume und Erinnerungen werden eins, verschwimmen und vermischen sich.

Daher erinnert ein jedes Blut und ein jedes Haus die Geschichte anders. Erfahrung und Wissen werden immer vom jeweiligen Standpunkt begrenzt. Nur die Träume sind endlos. So ist diese Geschichte auch nur unsere Geschichte.

Einst, in den alten Tagen, gab es eine Zeit, in der das, was der Schleier der Ewigkeit genannt wird, so dünn wie feinstgesponnenes Silber war. In dieser Zeit bewegte sich unsere Art frei unter den Menschen und die Welten von Tag und Nacht waren eins. Wir waren mehr als nur Legenden.

Die größten unter uns, deren Namen wir heute nur noch flüstern, die Altvorderen, waren wie Götter, dennoch mussten sie erkennen, dass auch Götter fallen können. Die alten Wege, sie dienten dazu, uns vor den daonna zu verbergen und zu schützen. Die Ordnung zu bewahren. Die Häuser herrschten über ihre Länder und über ihr Volk.

Und natürlich gab es Fehden und Zwist zwischen den Häusern. Es ist Teil unserer Natur. Diese Fehden machten die Meisten blind für die Tatsache, dass sich unsere Zeit dem Ende zu neigen würde. Nur Wenige spürten, dass die Nacht und die Dunkelheit anbrechen würden. Doch der Tráthnóna war gekommen.

Was die Ursache dafür war? Das weiß ich nicht. Manche sagen, dass das Christentum und die Künste der Wissenschaft die Träume und das Denken veränderten. Manche meinen, dass es sich nur um einen natürlichen Kreislauf, den Wandel von Tag zu Nacht handelte. Wieder andere meinen, dass dunkle Kräfte im Spiel waren. Am Ende ist das nicht wichtig.

Denn als die lange Nacht begann hob sich der Schleier und verbarg uns vor den daonna. Und diejenigen, die uns nicht vergaßen, die uns noch als das sehen konnten, was wir sind, sie wurden immer weniger.

Ob das die Ursache für den Aufruhr unter den sumairí war? Oder waren gar die Fehden und Zwistigkeiten, die Kriege und das vergossene Blut die Ursache für den Beginn der langen Nacht?

Auch das wissen wir nicht. Aber die Dinge änderten sich. Die meisten Ahnen gingen, sie verließen diese Welt. Manche für eine Ewigkeit, manche für immer. Und am Ende mussten die Häuser einsehen, dass sie ihre bisherige Existenz aufgeben mussten. Das die Welt sie und ihre Fehden endgültig zu vergessen drohte.

Und im Angesicht der endgültigen Niederlage legten sie ihre Kriege bei und in vielen, vielen Jahren einigten sie sich. Sie trafen ein Abkommen, eine Übereinkunft. Und sie besiegelten sie mit dem Schicksal, als Zeichen und als Band. Und ein Orden wurde gegründet, die Fäden zu weben.

Als Unterpfand musste ein jedes Haus einen seiner Leanaí geben. Einige aber weigerten sich, dies zu tun. So auch unser Sinsear. Denn der Drache kann nicht einen Teil von sich geben, nicht Klaue, nicht Auge und nicht Schwinge. Alles ist eins und wir alle sind eins. Unser Blut bindet uns. Unsere Bestimmung bindet uns. Unsere Ehre bindet uns. Nie würde der Drache eine Klaue, ein Auge oder eine Schwinge opfern.

Aber das ist eine andere Geschichte, für eine andere Zeit.

Die lange Nacht begann und der Schleier senkte sich wie ein Nebel über alles. Im Laufe der Zeit wurde er dichter und dichter. Und die Nachkommen der Ahnen vergaßen, wie es einst war. Sie passten sich an und es wurde zu ihrer Natur in den Schleier gehüllt zu sein. Die Weisheit der alten Sitten und Gebräuche, die alten Wege gerieten in Vergessenheit, wurden nicht mehr gebraucht. Sie wurden gar ersetzt. So also wurde der Hof der Nacht zu dem, was er heute ist. Die sumairí erinnerten sich nicht mehr.

Aber die Träume vergaßen nichts.

Und heute ist die Welt im Wandel. Man spürt es überall. Man schmeckt es im Blut. Man fühlt es in den Träumen.

Ganz allmählich wird aus dem dunklen schwarz ein zartes grau. Ganz allmählich beginnt der Schleier zu verblassen, so wie die Sterne und der Mond verblassen, wenn die Nacht dem Tage weicht. So wie die Träume verblassen.

Und daher ist es Zeit zu Erwachen.

Denn die Dämmerung naht.


Kieron


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