Buch der Masken
Vania
30.03.2013 - 17:07

Vampirin, Haus Mendoza

(dargestellt von Mareike Brüning)

1967, an der Grenze Kubas
Schüsse. Blut im Salzwasser. Ein kleines Mädchen, dass sich weinend an seine tote Mutter klammert, bis die Soldaten sie losreissen und wegtragen. Die Flößer sind längst im Schutz der Dunkelheit verschwunden.

1985, Havanna
Das Geräusch der aufreissenden Gardinen, und das gleißende Sonnenlicht weckten sie schlagartig auf. "Was ist denn los?", sie blinzelte Carmen an, die am Fenster stand und sie anlächelte, mit einer Freundlichkeit die nicht so recht zu ihr passen wollte.
"Hier ist was für dich gekommen." Sie hielt einen Brief in der Hand, "Ich hab ihn vor den anderen Mädchen gerettet. Steht ja schließlich dein Name drauf, und du willst sicher nicht, dass sie lesen was er dir schreibt."
Vania stockte für einen Moment der Atem. "Senor Mires hat mir geschrieben?"
Sie sprang aus ihrem Bett und versucht ihr den Brief abzunehmen, doch Carmen sprang zurück und hielt die Hand mit dem Umschlag hoch über ihre blond gebleichten Locken.
"Nichts da! Alles hat seinen Preis." Ihr Lächeln wurde jetzt zu einem Grinsen. "Du bist übrigens noch nackt. Hat der Kunde dich die ganze Nacht beschäftigt?"
"Bei mir halten sie halt länger durch als bei dir." Vania schnappte sich dem Morgenmantel der über einem Stuhl hing. "Und geben mehr Trinkgeld."
"Ha, dann lass mal sehen. Was bekommt wohl ein Postbote in den USA? 5 Dollar pro Brief?"
Vania schüttelte den Kopf. "Wucher. Ich geb dir 2."
"3 und ich halt dir die Senora noch ne Stunde vom Hals."
Vania zögerte nur einen kurzen Moment. "Deal. Dann lässt du mich aber auch in Ruhe."
"Aber sicher." Carmen hielt abwartend den Brief in der Hand, während sie nach ihrer Bezahlung von gestern kramte. "Wenn das drin steht was du hoffst, sehen wir dich hier bald eh nicht mehr, oder?"
Sie schüttelte den Kopf. "Sei nicht albern... hier hast du das Geld. Jetzt her damit."

Kurz darauf saß sie wieder auf dem Bett, und öffnete mit nervösen Fingern den Brief, zwang sich die Zeilen ruhig zu lesen anstatt zu überfliegen, während ihr kalt und heiß wurde. Eine persönliche Einladung zu einer Party, in einem Club von dem sie bisher nur von Mädchen gehört hatte, die genauso wenig Hoffnung wie sie hatten, ihn einmal zu betreten, und von Männern die an einem Abend mehr Geld ausgaben, als sie in einem Monat verdiente. Es wäre mehr als töricht diese Chance nicht zu nutzen, egal wie viel Angst sie hatte. Im La Frutilla hatte sie immer die Sicherheit der Gemeinschaft gehabt – dort würde sie alleine sein. Aber nein, sie wollte hier nicht für immer bleiben. Alles nur das nicht. Und wenn sie diesen Mann, den sie nur für eine Nacht hier zu Gast gehabt hatte, von sich überzeugen konnte, dann könnte sie das Bordell für immer hinter sich lassen...

1989
"Er ist ein wichtiger Gast. Und auch wenn er nur über seine Unterhändler mit mir sprechen will... er soll sich hier willkommen fühlen. Und dir wird er wohl kaum die Tür vor der Nase zuschlagen. Wenn er dann noch ein paar Dinge über seine Familie ausplaudert... dann um so besser. Mach mich stolz, Täubchen." Diego hatte gelächelt bei diesen letzten Worte, so wie er es manchmal tat wenn er sie betrachtete. Sie klammerte sich an dieses Lächeln, und versuchte nicht zu viel über seine wahre Bedeutung nachzudenken, während sie im Salon der Villa saß, die dieser Gast aus Bolivien mit seinem Anhang bezogen hatte. Ein junger Mann hatte sie eingelassen und ihr etwas zu trinken gebracht. Er hatte ungewöhnlich schlichte Kleidung getragen, vollkommen in weiß. Und was noch viel seltsamer war – ein Halsband, über das sie nicht nachzudenken versuchte. Die Sonne war inzwischen untergegangen und sie schaute auf die Uhr auf der Kommode, stand dann auf um die Einrichtung näher zu betrachten, die ihr sehr viel schlichter vorkam, als sie es von dem äußeren Anschein des Hauses erwartet hatte. Vor einer Vitrine blieb sie stehen um ihr Make-up und den Sitz des kurzen, grünen Kleids zu prüfen. Erst auf dem zweiten Blick bemerkte sie die kleine Figur eines ausgemergelten Mannes mit einem Buch in der Hand. Irgendwo aus ihrem Unterbewusstsein kam ihr das Wort "Heiliger" in den Sinn, und vage Erinnerungen an ihre früheste Kindheit, an Gebete und Lieder...

"Der heilige Hieronymus. Er ist der Schutzpatron der Gelehrten." Sie drehte sich um, fühlte sich als hätte er sie bei etwas verbotenem erwischt. Aber es würde nicht schaden wenn sie errötete, im Gegenteil, sie - ihr Gedankengang verlor sich als sie ihn wirklich ansah. Er war jünger als sie erwartet hatte, kaum älter als sie selbst, soweit sie es einschätzen konnte. Seine dunklen Haare und Kleidung schienen ihn sehr viel blasser zu machen als er sein konnte – wer war hierzulande schon so blass? Und seine Augen... sie war für einen Moment von seinem Blick wie festgefroren. Er schaute sie keineswegs unfreundlich an, doch auf eine durchbohrende Art die sie unwillkürlich erschaudern lies. "Du musst Vania sein?" Er lächelte leicht.
"Ich... äh... ja." Verdammt, hör auf zu stottern! "Mein Name ist Vania." Das weiß er schon! "Senor Mires schickt mich."
Er musterte sie und mit einem Mal fühlte sie sich nackter als je zuvor vor einem Mann.
"Ich verstehe. Hat Antonio dich versorgt?"
"Antonio?" Starr ihn nicht so an!
"Mein Anwärter. Er hat dich hereingelassen."
"Ja. Vielen Dank." Anwärter?
Er nickte, machte dann eine Geste, dass sie sich setzen sollte, und die ihr vorkam als würde er sie an ihr ausprobieren. Sie setzte ein Lächeln auf, während sie sich wieder setzte.
"Senor Mires bedauert, dass Sie ihn nicht persönlich treffen können. Er freut sich aber, dass Ihre Familie an Geschäftsbeziehungen interessiert ist. Ich bin lediglich hier, um Ihnen die Vorzüge Havannas etwas näher zu bringen."
"Die Vorzüge, hm?" Er nahm ihre Hand, die Finger unerwartet kühl auf ihrem Handgelenk. "Weißt du... jetzt wo ich darüber nachdenke ist es hier doch recht ungemütlich. Komm mit nach oben... ich bin gespannt auf diese... Vorzüge."
Sie lächelte und stand wieder auf, zupfte ihr Kleid mit einem geübten Handgriff zurecht.
"Senor... Sie haben mir Ihren Namen noch gar nicht verraten."
"Oh..." Er legte eine kühle Hand auf ihre Wange, und zum zweiten Mal fühlte sie ein Schaudern - doch es war keineswegs unangenehm.
"Natürlich. Mein Name ist César Ferrera Juarez. Willkommen in meinem Haus."

"Er hat also Gefallen an dir gefunden?" Diego Mires saß hinter seinem Schreibtisch und forderte sie nicht auf sich zu setzen.
"Ja... das hat er. Ich bin mir sicher, er wird mir bald noch mehr erzählen."
Sie beobachtete ihn, war froh dass er sie kaum eines Blickes würdigte, nicht bemerkte wie blass sie war, oder wie ihre Hände schwitzten. Sie war sich sicher, dass er alles wissen würde, wenn er ihr in die Augen blickte, so wie er es immer tat. Anfangs hatte es sie fasziniert, wie er sie durchschaute und verstand, ohne dass sie ein Wort sagen musste. Jetzt machte es ihr Angst.
"Geh heute Abend wieder zu ihm." Er entließ sie mit einem Wink seiner Hand, und sie war froh, das Arbeitszimmer verlassen zu können.

"Erzähl mir von dir. Wie bist du zu Mires gekommen?"
Kühle Hände auf ihrem Körper.
"Ich habe ihn bei der Arbeit kennengelernt."
"Was für Arbeit?"
Kühle Lippen, die sich mit jedem Kuss mehr erwärmten.
"Muss ich das wirklich sagen?"
Ein Lächeln, nicht spöttisch, sondern verstehend.
"Und was willst du von ihm?"
Sie schauderte, trotz der warmen Luft, zog die Decke näher an sich.
"Er gibt mir Sicherheit."
"Und bist du glücklich bei ihm?"
"Ich... bin nicht fürs Glück geboren."
"Oh..." Er sieht ihr in die Augen. "Da wage ich zu widersprechen. Glück ist flüchtig, ja. Und in diesem Land ist es wohl ein seltenes Gut. Aber ich könnte dir zeigen was Glück bedeutet."
Eine kurze Berührung ihrer Lippen.
"César... das hast du schon längst."
Und dann: Das leise Versprechen eines besseren Lebens.

"Vania!"
Sie fühlte den stechenden Schmerz einer Ohrfeige und schrak auf, krümmte sich dann zusammen, während die Erinnerungen auf sie einprasselten. Er hatte es herausgefunden, hatte sie aufhalten wollen, konnte nicht zulassen dass sie ihn so verriet und bloßstellte. Es war alles so schnell gegangen; sie erinnerte sich an den Schuss, an Antonios leere Augen, den Schmerz der mit dem zweiten Schuss kam, und dann... dann...
"César... wo...?" Sie keuchte. Es war dunkel hier, und feucht, aber sie merkte es kaum über den Schmerz in ihrem Unterleib. Panik stieg in ihr auf, Erinnerung an ihre Mutter, deren Gesicht halb von Kugeln zerfetzt war. Hatte sie sich genauso gefühlt? Würde sie jetzt genauso sterben? Sie wollte es nicht, wollte dagegen kämpfen, aber die Angst und der Schmerz nahmen ihr alle Kraft. Sie merkte kaum wie schnell ihr Atem ging, als er sie zwang, ihn anzusehen.
"Shhhh... ruhig... du musst langsamer atmen..." Die Trauer, Wut und Sorge in seinen Augen lies sie stocken. Er zog sie näher an sich, flüsterte in ihr Ohr. "Es tut mir leid... aber bitte vertrau mir.. ich werde dich jetzt nicht auch noch verlieren."
Der dunkle Kuss, so hatte er es einmal genannt, und nie war es dunkler in ihr gewesen als hier und jetzt. Und mit dem Blut nahm er ihr die Schmerzen, die Angst, die Kälte, betäubte sie mit Bildern eines besseren Lebens, dem Gefühl einer liebenden Familie, bis nur noch der verführerische Sog des Schlafes übrig blieb, der sie eine Dunkelheit zog, die jenseits jeder Nacht lag, so einladend, so zum greifen nah...
"Trink."

"Das ist eine unangenehme Angelegenheit, César. Sie gehört nicht hierher. Antonio war für dieses Leben geboren und erzogen worden. Aber diese Hure? Sie kennt nichts von unserer Welt."
Er stand alleine vor ihr, in dem kargen, weiß getünchten Raum, in dem lediglich ein Schreibtisch und ein Bücherregal standen. Ihr dunkelgrünes, hochgeschlossenes Kleid war schlicht und kaum verziert, aber sie schien ihm nicht weniger als eine Königin darin.
"Sie ist viel mehr als das. Ich habe viel mit ihr gesprochen. Sie hat das Potenzial, Senora, und den Willen. Ich bin mir ganz sicher."
Die alte Vampirin schaute ihn mit durchdringenden Katzenaugen an. Es überraschte ihn immer wieder, wie diese Augen ihr ansonsten schlichtes Gesicht verwandelten, es jedem leicht machten, ihr den Respekt zu zollen, den sie verdiente. Er senkte den Blick.
"Sie hat zwei Jahre. Aber sie wird nicht hier lernen, und nicht unter dir. Du liebst sie."
"Das tue ich."
"Sie wird auf der Insel lernen, unter Senor Garcia und dem Meister, sofern er einwilligt. Ich werde einen Brief schreiben. Was dich angeht, liegt es an Maria dich zu bestrafen. Du kannst gehen."
"Danke, Senora." Er ging rückwärts zur Tür, wandte sich dann ab.
"Und César." Er hielt inne. "Es tut mir leid dass du Antonio verloren hast."
Er blickte nur kurz zu ihr, nickte dann, und verlies den Raum.

1990
"Warum bist du hier?"
Die Stimme kam aus der Dunkelheit, die Frage die gleiche wie die hunderte Male zuvor. Sie wollte schreien, aber sie hatte längst verstanden, dass ihr das nicht half. Genauso wenig wie all die Antworten die sie auf die Frage gegeben hatte, ihr geholfen hatten. Und sie konnte nicht mehr denken, nicht solange der Durst nach Blut ihren Verstand ertränkte, sie lähmte und in ihr Alpträume und die furchtbarsten Fantasien weckte. Warum hatte César sie hierher gebracht? Warum hatte sie sich von ihm überzeugen lassen? War ihr Leben nicht gut genug gewesen? Sie hatte gehabt was sie brauchte, und sie hatte sich immer einreden können, geliebt zu werden, von einem Mann der ihr für einen kleinen Preis die Welt zu Füßen legte.. oder zumindest Teile davon...
Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. "Ich wollte doch nur glücklich sein."

1991
César nahm ihr mit einem stolzen Lächeln das Halsband ab und küsste ihre Stirn. Er schaute sie längst nicht mehr so an wie damals, in den ersten gemeinsamen Nächten, aber sie verstand es. Zu viele Worte waren zwischen ihnen gefallen, und obwohl sie ihm längst alles verziehen hatte, würde sie für ihn wohl nie mehr das Mädchen von früher sein können, genauso wenig wie er noch ihr Märchenprinz war. Sie schaute zu Dario, der kaum eine Miene verzog, lediglich leicht nickte, und fühlte tiefe Dankbarkeit. Er hatte ihr mehr gezeigt, mehr geholfen zu verstehen, als sie je für möglich gehalten hatte. Und er hatte sie mit seinen Lehren und Prüfungen genauso endgültig verwandelt, wie César damals mit seinem Kuss. Sie fühlt die Blicke der versammelten Vampire auf sich, sah wieder César an. Er nahm ihre Hand, wandte sich mit ihr an die Familie. "Brüder und Schwestern - heißt Vania willkommen."


Vania Juarez-Moreno


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