Chroniken » Chroniken VIIII. - Die Zeit der Scherben: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2012
2012.11.24 - Γνῶθι σεαυτόν: Kassandras Ruf
26.11.2012 - 18:42

Nachdenklich blickte sie auf ihre neuen Handschuhe und ließ den Stoff durch die Finger gleiten. Eigentlich war es nicht ihre Art, spontan shoppen zu gehen, aber heute hatte es sie in einer sentimentalen Anwandlung gepackt. Maximilians Worte kamen ihr in den Sinn: "Ich will mir die Hände nicht schmutzig machen", hatte er gesagt, als er beim vergangenen Treffen die Seinigen übergestreift hatte und Kassandra war heute mit dem dringlichen Gefühl aufgewacht, dass sie es ihm gleichtun sollte.

Maximilian. Inzwischen wäre ihm etwas Blut an den Händen vielleicht ein willkommener Snack gewesen. Auf Kassandra hatte er auch als Mensch schon einschüchternd gewirkt, allein wegen seiner Größe und der kühlen Art. Aber als er schließlich als Vampir vor ihr gestanden hatte, mit funkelnden Augen und diesem spöttischen Lächeln, da war er ihr wie eine entfesselte Naturgewalt vorgekommen. "Was habe ich da nur auf die Menschheit losgelassen?", seufzte sie leise. Doch noch während sie die Worte aussprach, wusste sie, dass sie nichts anderes hätte tun können, geschweige denn wollen. Ja, Kriegs Kommentar hatte sie getroffen. "Ab jetzt musst Du damit leben, dass Du für jedes Menschenleben verantwortlich bist, was er auslöscht", hatte er gesagt und das ganze Ausmaß der Entscheidung war wie ein Wasserfall über sie hereingebrochen. Und trotzdem hätte sie sich wieder so entschieden. Es hatte sich richtig angefühlt. Und wer wäre besser geeignet gewesen in die Unsterblichkeit zu gehen als Maximilian? Immerhin schien er sein Schicksal freudig anzunehmen und würde keine tragische Figur, so wie Krieg. Blieb zu hoffen, dass er keine Schulklassen verspeisen würde.

Sie stand auf um noch einmal durch die Gänge des Schlosses zu schlendern, das von nun an ihr zuhause sein sollte. Noch so eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Obwohl sie ihre Not gehabt hatte, die Wahl ihren engsten Freunden beizubringen, glaubte sie am richtigen Ort zu sein. Was hatte Luna gesagt? "Vielleicht haben Dich die Geister angezogen." Möglich wäre es. Auf jeden Fall war sie nicht wegen der herzlichen Umgangsformen hier gelandet. Sie konnte die Faszination für das Haus nicht leugnen. Da war etwas gewesen, was sie gefesselt und immer wieder hierher getrieben hatte - und das, obwohl ihr hier Dinge abverlangt wurden, von denen sie niemals geglaubt hatte, sie bewältigen zu können und sogar zu akzeptieren.

Sie setzte sich schwer auf eine Treppenstufe und wandte ihre Gedanken denjenigen zu, von denen sie geglaubt hatte, sie besser zu kennen: Michael und Lyra. Nach diesem Abend war sie sich nicht mehr sicher, ob sie überhaupt noch wusste, mit wem sie es zu tun hatte. Es war alles so viel gewesen: Geister, Unsterblichkeit, Tod. Sophie. Nur ganz langsam träufelte die Bedeutung der Geschehnisse in ihr Bewusstsein und hinterließen dort ein großes Fragezeichen.

"Was wird das nur werden?", fragte sie sich nicht zum ersten Mal heute. Als Antwort wiederholte sie wie ein Mantra abwechselnd Kriegs und Lyras Worte. "Du musst damit leben. Einmal Hardenberg, immer Hardenberg."


Kassandra


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