Chroniken » Chroniken VIII. - Die Zeit des Kreises: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2011
2011.10.29 - Tanz der Schatten: Kassandras Ruf
01.11.2011 - 19:05

Noch immer stehen mir die Nackenhaare zu Berge, denke ich an diesen einen, schicksalshaften Abend. Neugierde, Interesse und Wissbegierde hatten mich geradewegs ins Maul der Bestie geführt. Und obwohl ich zuvor meinte, die Mysterien der Welt zu kennen, war ich doch in keinster Weise auf das vorbereitet, was mich erwartete.

Es begann alles mit der Einladung und mit dem Namen der Gastgeberin, der mir aus meiner Familienchronik so seltsam vertraut vorkam - in Zusammenhang mit einer mysteriös verstorbenen Verwandten, die genau wie ich, über die Gabe der Hellsicht verfügte. Ich wollte mehr herausfinden über die Vergangenheit, über die Gerüchte, über die selbst im engsten Familienkreis nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird. So fand ich mich am Samstagabend sprichwörtlich auf der Schwelle zum Tode wieder - wobei der Tod an diesem Abend viele Gesichter hatte.

Die Ereignisse überschlugen sich, was dazu führte, dass ich mich bald weniger um das Leben meiner längst verstorbenen Verwandten sorgte, als um mein eigenes. Obgleich ich auf meine Sterne, die Tarotkarten und in mein Schicksal vertrauen wollte, war ich vom eiskalten Atem des Todes vor Angst wie gelähmt. Es war mir, als hätte ich in den starren, leblosen Augen eines Unsterblichen meinen Tod gesehen. Und wie ich mich auch wand, schien ich mich doch immer weiter in seinem Netz zu verfangen. Doch ich wollte nicht sterben, konnte nicht sterben, durfte nicht sterben, allein um meine Sache nicht zu verraten.

So fand ich mich mit einem Mal vor einer grausamen Wahl und mit einem Leben in meiner Hand. Während ich äußerlich schrie, hatte ich doch meine Entscheidung längst getroffen - eine Entscheidung, die mich zutiefst bestürzt, auch wenn sie schlussendlich nie vollendet wurde. Wie dankbar bin ich doch der Gräfin, dass sie mich zum zweiten Mal an diesem Abend aus einer scheinbar ausweglosen Situation befreit hatte. Es schien ihr also doch etwas an mir zu liegen, auch wenn sie das unter diesem harten, rauen Kern gut zu verstecken wusste.

Doch der Abend war noch jung, und obwohl mir der Schreck bereits durch alle Glieder gefahren war, waren sie doch nur der Auftakt für eine ganze Reihe entsetzlicher Erlebnisse. Ein schaurig-blutiger Tanz, der mir in meinen Albträumen wiederbegegnet, ein Blick voller Mordlust und Hunger, schwarze, tödliche Dunkelheit … Und über alledem die Aura von alter Macht, die mich gleichzeitig lähmte und faszinierte.

Es ist nicht weniger als ein Wunder, dass ich mit heiler Haut davongekommen bin. Die seidenen Fäden meines Lebens wurden von einigen Wenigen zusammengehalten, die ihre schützende Hand über mich hielten und denen ich dafür zutiefst dankbar bin. Sie waren mir das Licht in der Dunkelheit und ich verdanke ihnen nicht weniger als jeden Schlag, den mein Herz seither in meiner Brust geschlagen hat.


Kassandra


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